Land, Besitz und Commons
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In der beinahe 170-jährigen Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Semmering seit der Erschließung durch die berühmte Bahnstrecke lassen wirtschaftliches Wachstum und sozialer Wohlstand der Region sich in Pendelbewegungen verfolgen. Die Aktivitäten der Eisenbahngesellschaft und die damit einhergehende Erschließung der Alpenlandschaft als pittoresker Kulisse – oft von großbürgerlicher Freizeit-Kultur geprägt – die »Zähmung« der Natur und eine Ausweitung der Stadt in die Landschaft mit allen erdenklichen luxuriösen Annehmlichkeiten standen dabei am Beginn. Deren Niedergang als Folge der Kriege, der Shoah und der großen gesellschaftlichen und geopolitischen Umbrüche hat den Semmering verändert. Die Tourismuslandschaft ist in ihrer langjährigen Geschichte immer wieder mit den Konsequenzen der sozialen Transformation konfrontiert worden, an ihre Grenzen gestoßen und ihre Hochkonjunktur ist mitunter ins Gegenteil gekippt. Ein Ort, der ursprünglich von der Hocharistokratie, Industriellen und namhaften Intellektuellen vereinnahmt wurde und ihnen Zerstreuung bot, wurde im Zuge der Demokratisierung auch von einem breiten Spektrum an Tagesbesucher*innen genutzt. Neue Impulse setzte die Ernennung der Semmeringbahn zum UNESCO-Weltkulturerbe.
Der Semmering ist eine mit Superlativen behaftete Landschaft und bedeutet für jede Besucherin, für jeden Besucher etwas anderes. Wesentlich ist auch, zu welchem Zeitpunkt auf den Semmering geschaut wird. Der Titel Land, Besitz und Commons für einen Ausstellungsparcours zeitgenössischer Kunst am Semmering mag im ersten Moment ebenso lapidar wie gesucht wirken. Doch er will die facettenreiche Geschichte des Semmering zunächst einmal beiseitelegen und stellt Fragen zur Bedeutung von »Land« heute – Land als einem Stück der Erdoberfläche, das sich auf lokale Naturen bezieht, auf die Besonderheiten eines Ortes. Er verweist auf die charakteristische Kombination von Fauna und Flora, Klima und geologischer Beschaffenheit und den Eingriffen des Menschen, die einer Landschaft ihr Gesicht verleihen. Unsere Gegenwart ist durch ein prekäres Verhältnis zur Natur geprägt, unsere Technologiegebundenheit erstickt romantische Vorstellungen, die zuhauf gegenwärtigen Bilder stellen sich vor sie. Wie geht man mit den direkt erfahrbaren Bildern von Natur, mit den »inszenierten Blicken« und dem »Überangebot an idealen Blickwinkeln« vor Ort um? Sind diese bizarren Fels- und Gebirgsformationen vom romantischen Sehnsuchtshorizont zu einem bloßen touristischen Marketinginstrument verkommen? Was kann die bildende Kunst in einem so dichten kulturellen Geflecht an Geschichte und Gegenwart ausrichten? Das Sensorium der bildenden Kunst besteht im Schauen, Visualisieren, Recherchieren und Analysieren. Die Umsetzung der Erfahrungen führen zu Skulptur, Installation oder performativen Akt.
Die »Landschaft Semmering« ist längst in standardisierte Blicke eingeteilt, nichts ist dem Zufall überlassen, an einigen Stellen wird das Wachstum der Natur wegen der Veduten in Zaum gehalten, sie wird gerahmt und dem touristischen Blick übergeben. Der künstlerische Blick hält nun dagegen, transformiert sich in ein anderes Medium und versucht, den Natur- wie den Kultur- begriff auf eine aktuelle Ebene zu bringen, sucht die Dichotomie von Natur und Kultur hinter sich zu lassen und mit gegenwärtigen wissenschaftlichen Paradigmen zu arbeiten. Er öffnet, und das ist mehr als ein Gemeinplatz, eine andere Sicht auf die Welt, in der wir uns nicht länger als unabhängig von und im Gegensatz zu unserer Erde betrachten. Mit dem Schlagwort »Besitz« wiederum soll auf die Unschärfe der Demografie am Semmering und deren Strukturprobleme verwiesen sein. Zu dieser Situation hat nicht nur die Abwanderung, sondern auch vor einigen Jahrzehnten der Verkauf von Teilen der Grandhotels und Villen für Apartments als Zweitwohnsitze beigetragen. Und »Commons« ist ein zukunftsweisender Begriff, der in vielen Zusammenhängen gebraucht wird, und der ein Allgemeingut meint, das nicht im Gut selbst liegt, sondern in der sozialen Konstruktion, die politisch entschieden wird. Er meint einen Aufruf, autonome Räume zu schaffen, die abseits der kapitalistischen Struktur bestehen, um »die Welt wieder zu verzaubern«.
Zurück zum Semmering: Was könnte so eine Verzauberung bedeuten? Der Weg dazu, den die Künstler*innen vorschlagen, ist Aneignung, Erkundung, Selbstbetrachtung, Präsenz und Dasein, durchaus auch im weiteren politischen Sinn. Er zielt auch auf spielerische Beschäftigung zur Auflockerung festgefahrener Sichtweisen. Die Wege am Semmering – viele parallel geführt, durchlässig über verschiedene Grundstücke – bilden ein robustes dichtes Netz, führen zu besonderen Ausblicken, nehmen manchmal auch das kleine Unbedeutende vom Rande mit. Man wäre fast verführt zu sagen, die Wege am Semmering sind ein »Common«, sie lassen zwischen den Kunstwerken die direkte Erfahrung des Semmering als Landschaft der Gegenwart lebhaft spüren. Sie sind das zweite Thema dieses Parcours. Und es ist diese Verknüpfung von menschlichen und nichtmenschlichen Sphären, welchen sich die Arbeiten der eingeladenen Künstler*innen widmen, die sich vor Ort mit der Situation des Semmering auf unterschiedliche Weise auseinandersetzen.
Werkbeschreibungen: Ada Karlbauer
Mitwirkende
- Kuration
Beiträge
Milica Tomić
Flowers (Not) Worthy of Paradise
Installation, Gefäße, Pflanzen und Samen von Palmen, 2021
Der Semmering ist mehr als nur eine Kulisse. Beim Blick auf die Landschaft überschneiden sich die Motive. Die Natur, die sich um den Semmering schmiegt, ist erhaben, geschichtsträchtig, postkartenartig. In Flowers (Not) Worthy of Paradise beschäftigt sich Milica Tomić mit Verhältnissen zwischen denen, die kamen, und denen, die gingen. Wer wurde vertrieben und wessen Land wurde besetzt? Die Installation blickt dabei auf den Garten als eine Form des Widerstands gegen koloniale Barbarei und erzwungene Akkulturation. Tomić lenkt den Blick vom Semmering auf die Welt.
Auf Einladung von Milica Tomic führte Abdelrahman Elbashir die Aktion Planting a Stone („Einen Stein pflanzen“) während der Eröffnung der Ausstellung Land, Besitz und Commons vor: Er vergrub auf einer Wiese einen Grenzstein. Hintergrund von Elbashirs Performance sind seine Recherchen über die materialisierte Entstehung des Politischen aus der Agrarlandschaft im heutigen Sudan durch die Geschichte relationaler Systeme im Kontext der britischen Besatzungsherrschaft. Die Performance am Semmering bezieht sich auf den britischen Dokumentarfilm „They Planted a Stone“ aus dem Jahr 1953, der "die Ankunft des ersten europäischen Menschen im Anglo-Ägyptischen Sudan zeigt, den die Bevölkerung jemals einen Grenzstein setzen sah". Jener Moment markierte eine neue Epoche eines radikalen Wandels. Die Gezira Ebene wurde zu Zentralsudan transformiert und mit der größten Bewässerungsanlage Afrikas ausgestattet. Parallel dazu liest Elbashir die Geschichte des Semmering als eine Geschichte der menschlichen Eingriffe in eine Landschaft. Elbashirs Recherche ist derzeit in der Annenstraße 53 in Graz als Teil von Land, Besitz und Commons zu sehen.
Auf Einladung von Milica Tomic erarbeitete Anastasiia Kutsova einen Beitrag zu Aspekten der ukrainischen Post-Sowjetrealität von kommunalen Gärten (ZHKH), die in den sozialistischen Wohnbaukomplexen als "soziale Formen" eingebettet sind.
Abdelrahman Elbashir
* 1994 in AL DAMAZIN, Sudan, studiert am IZK an der TU in Graz
Anastasiia Kutsova
*1995 in Dnipropetrovsk, Ukraine, studiert am IZK an der TU in Graz
Olga Chernysheva
The Song
Installation, 450 x 210 cm, Holz, Gravur, 2021
Zwischen dem Semmering und Triest fährt die Eisenbahn noch immer unweit von Duino nahe Triest, wo Rainer Maria Rilke sich 1912 aufhielt. Ausgangspunkt der Arbeit war ein kaum bekanntes Gedicht von Rilke auf Russisch verfasst. »Das Antlitz« (Nikolaustag, 1900) ist ein Liebes- und Abschiedsgedicht an Lou Andreas-Salomé. Es wurde nie offiziell übersetzt, blieb der deutschen Sprache bisher verborgen. Unterhalb des ikonischen Leseraumes des ehemaligen Kurhauses, in dem sich so manche Worte in die Gedanken eingeschrieben haben, befindet sich die Installation. »Das Antlitz« wird an dieser Stelle in cyrillischen Lettern zart in die hölzerne Oberfläche eingeritzt. Eingeschrieben, wie ein verborgenes Geheimnis, lässt es sich ertasten und von manchen verstehen. Rilke auf Russisch klingt anders. Kindlich geformte Worte, Bekanntes und Einfaches erzählen die Bilder. Ein poetischer Austausch der Silben und Worte zwischen den Muttersprachen, ein Changieren zwischen den Bedeutungen, den Verständnissen. Ob Rilke selbst jemals am Semmering war, das weiß keiner so genau, seine Worte sind es jetzt jedenfalls.
Anca Benera & Arnold Estefan
No Shelter From the Storm
HD Video, 5 min. 42 sec., 2015
Der Film entstand in einem der letzten Urwälder Europas, den Karpaten. Man sieht gefällte Bäume, Spuren der Verwüstung, gefallene Äste in Schwarz-Weiß. Die Künstler*innen durchqueren das verletzte Waldgebiet, ein bergiges Gelände begleitet von der vielzitierten Melodie von »Where Have All the Flowers Gone?«, einem Antikriegs-Protestlied der 1960er Jahre von Pete Seeger. Das Lied, das hier als Kommentar über den Wipfeln schwebt, wurzelt ursprünglich in einer Volksweise der Donkosaken und wurde bereits 1928 in Mikhail Sholokhovs Roman »And Quiet Flows the Don« erwähnt. In diesem Grenzgebiet zwischen Rumänien und der Ukraine wurden die Bilder während einer bewaffneten Auseinandersetzung auf dem Territorium des postsowjetischen Landes eingefangen und verhandeln damit die globalen Auswirkungen von multinationalen Konzernen auf die Natur an sich.
Inge Vavra
Schlagschatten
Skulptur, Eisen (810 x 462 x 10 cm), Spiegel (20 x 50 cm), 2021
Ein Schlagschatten liegt auf einer Wiesenfläche auf der talseitigen Terrasse des Südbahnhotels. An dieser Stelle stützen Reste einer ehemaligen Mauer einen parkähnlich gepflanzten Abhang. Inge Vavra platziert auf dieser Fläche die Arbeit Schlagschatten, eine Konstruktion aus Vierkanteisen, angelehnt an historische Gartenlabyrinthe und die Grundfesten barocker Gebäude. Die Mauer wird hier zu einer Kulisse. Als Zitat geformt, zeigt sich die historische Differenz durch das fremde Material. Ein Spiegel wird an der Grundkonstruktion angebracht und reflektiert so das Umliegende anekdotisch. Im Hintergrund die Hotelfassade in sanftem Gelb. Der Standpunkt des Blickes formt das Bild, ob oben oder unten, die Konstanten beginnen zu kippen, wechseln den Ort. Neue Räume formen sich im Gras, der Himmel liegt unter den Füßen, die Umgebung löst sich von seinen Ursprüngen.
Zhanna Kadyrova
Second Hand
From the series Second Hand (Grössling Bad Bratislava), 2020
Keramikfliesen, 80 x 69 x 10 cm
Draußen vor der Tür hängt ein Handtuch am Geländer vor dem in die Tage gekommenen Juwel eines Hallenbades der 1930er Jahre im Südbahnhotel. Es wurde aus Fliesen gewebt, in der Bewegung eingefangen. Es ist hellblau, mit kleinen Details. Das Material stammt aus dem Grössling Bad in Bratislava und ist in eine neue Form gebracht. Nicht nur das Handtuch ist in der Gegenwart erstarrt, auch die Ballons der Installation Volatilität steigen nicht mehr auf, sie hängen über dem See, dem Eisteich und bilden eine Formation im Stillstand. Die ukrainische Künstlerin Zhanna Kadyrova schafft fragile Skulpturen an zwei verschiedenen Orten. Sie blicken einander aus der Ferne an, öffnen ein räumliches Verhältnis.
Second Hand bleibt, doch die heliumgefüllten Objekte verschwinden: Die Installation ist kurzlebig, nur zwei Tage noch nach der Eröffnung ist sie zu sehen. Bevor sie verschwinden, sind die Ballons in der Ferne von verschiedenen Blickwinkeln aus erkennbar. Dann sind sie, nun in Bewegungslosigkeit, nur in Form einer Fotografie festgehaltenAbstrakt geworden thematisieren die Arbeiten Momente der Wahrnehmung. Ganz oben, am höchsten Punkt des Semmering, hängt das Silberschlössl in der Landschaft – erbaut für den Wiener Luftfahrtpionier Viktor Silberer, blickt es herunter und schafft einen historischen Zusammenhang, der sich in der Landschaft manifestiert.
Laure Prouvost
Wantee
HD Video, 14 min. 23 sec., 2013 (Turner Prize 2013)
Ein dunkler, schlammiger Raum. Benutztes Geschirr wurde am Tisch zurückgelassen, der Tee wurde schon lange serviert, an den Wänden hängen Malereien. Die Zeit ist über diesen Raum gefallen, wie auf einer verblichenen Fotografie. Es ist das Wohnzimmer eines Großvaters, den es nie gab, ein Konzeptkünstler und enger Freund Kurt Schwitters, so beschreibt ihn Laure Prouvost in ihrer Videoarbeit Wantee. Der Name der Videoarbeit spielt hier auf Schwitters Lebensgefährtin »Wantee« an, deren Name aus der ständigen Angewohnheit entstand, Tee anzubieten. Das letzte Konzept des fiktiven Großvaters war es, einen Tunnel nach Afrika zu graben, direkt aus dem Wohnzimmer heraus. Er gräbt und gräbt, dann verschwindet er irgendwann spurlos. Durch assoziativ gestaltete Bildketten skizziert der Film eine intime Geschichte jenseits von realen Tatsachen. Er beschäftigt sich mit der Rezeption von Kunst im Laufe der Zeit und dem damit zusammenhängenden Kontrollverlust sowie der Konstruktion von Künstler*innenbiografien an sich. Realität und Fiktion verschmelzen in dieser Stube zu einer alternativen Gegenwart.
Hannes Zebedin
Die Loos-Schleuse
Holz (530 x 198), verschiedene Materialien, 2021
Das Landhaus Khuner im Semmering-Rax-Gebiet ist eine Ausnahme. Als eine der letzten Arbeiten Adolf Loos´ hebt sich das Bauwerk sichtbar von seinem architektonischen Umfeld ab. Loos bahnbrechendes Konzept des »Raumplans«, das Denken in Räumen und Kuben und nicht in Plänen, wurde im Looshaus verwirklicht. Hannes Zebedin verknüpft in seiner Installation am legendären alpinen Golfplatz die Moderne mit den traditionellen Formen. Ein Ausschnitt der Fassade der Villa wurde nachgebaut, wie eine Art Schutzwall steht diese nun im Hang. Das bei Loos gefundene Fensterladensystem reguliert durch seine Bewegung »Ströme«, öffnet und schließt sich wie eine Schleuse. Die industrialisierte Landwirtschaft hat mittlerweile auch alpine bäuerliche Formen der Arbeit zum Verschwinden gebracht. Zebedin erinnert sich ihrer und verwendet eine Formation der vergessenen Heumännchen und Schwedenreitern in strahlenförmiger Anordnung für seine Installation.
Zhanna Kadyrova
Volatilität
2021
Fotografie heliumgefüllter Ballons in verschiedenen Größen
(die 3-tägige Installation der Arbeit ist von 24. bis 26. Juli 2021 am Eisteich (in der Nähe des Hotel Panhans) zu sehen)
Die Installation ist kurzlebig, nur zwei Tage noch nach der Eröffnung ist sie zu sehen. Bevor sie verschwinden, sind die Ballons in der Ferne von verschiedenen Blickwinkeln aus erkennbar. Dann sind sie, nun in Bewegungslosigkeit, nur in Form einer Fotografie festgehaltenAbstrakt geworden thematisieren die Arbeiten Momente der Wahrnehmung. Ganz oben, am höchsten Punkt des Semmering, hängt das Silberschlössl in der Landschaft – erbaut für den Wiener Luftfahrtpionier Viktor Silberer, blickt es herunter und schafft einen historischen Zusammenhang, der sich in der Landschaft manifestiert.
Mikhail Tolmachev
Wo wir stehen – weit entfernt
Zwei dialogische Soundinstallationen je 5 min., 2021
Die Soundinstallationen starten alle 15 Minuten, zeitversetzt zwischen den beiden Plattformen.
Der Blick fällt aus einem Fenster, ohne dass man ihm folgen kann. Es könnte überall sein, wo Wiesen liegen und Berge stehen, Straßen gehen. Die Augen ertasten die Landschaft, die sich neben den Serpentinen entlang schlängelt. Diese Aussicht klingt anders. Mikhail Tolmachev erschafft in seiner Soundinstallation Bildbeschreibungen ohne Bilder, der Text begleitet die Augen, vor denen sich eine andere Landschaft auftut. In seiner Arbeit thematisiert er den Naturbegriff im Wandel und seine Manifestation in der Landschaft. Die Natur wurde gemacht. Alles wurde irgendwann einmal geschaffen, inzwischen sieht es so aus, als wäre es natürlich gewachsen. Am »Balkon von Wien« beginnen die unterschiedlichen Fensterblicke miteinander zu korrespondieren, schaffen die Aussicht in Gedanken neu.
Titre Provisoire
Uncertain Geographies
Cathleen Schuster/Marcel Dickhage
Video-Installation, HD Video, 15 min., 2015
Der Film Uncertain Geographies erzählt die Geschichte einer Landschaft, die sich tief in den Sedimenten der Erinnerung verbirgt. Zwei Performer versuchen, die Physiognomie der Landschaft, die in Realität nicht zugänglich ist, zu materialisieren. Mittels digitalen Geo-Mappings werden die Geographien des Donbass und der Krim nachgezeichnet und erforscht. Die Arbeit thematisiert Formen von Aneignung und des Zurückziehens, drückt einen künstlerischen Wunsch aus, eine Landschaft von jeglichen Auswirkungen einer Souveränität zu befreien. Ein Tanzfragment mit Bezug auf Strawinskys Opfertanz bricht mit dem sprachlichen Teil des Films und setzt den Opfertanz in Verbindung zum digitalen ›Speicher aller Erinnerungen‹, in dem sowohl das Sterben als auch Erinnern einen wiederkehrenden Konflikt darstellen.
Abdul Sharif Baruwa
Wohin das Auge fällt
Installation, verschiedene Materialien, 2021
Nach vielen Skizzen hat sich der Blick verändert, der Ort ist geblieben, genauso wie die Form. Abdul Sharif Baruwa arbeitet sich am Vorgefundenen entlang, an dem, was ins Auge fällt. Ausgehend von malerischen Entwürfen, die sich immer wieder ablösen, sich stapeln und schließlich durchdringen, entstehen die Ideen, die sich später im Raum manifestieren. Fast so, als würde man jemanden beim Denken zusehen, nachdem eigentlich schon gedacht wurde – könnte man sich das vorstellen. Lose Linien werden in die Landschaft gebaut, wie gedankliche Verästelungen, die sich immer weiter vernetzen. Die eigene Person, die Biografie wird in ihrem Prozess nicht ausgeblendet, sondern formt die Skulpturen, nah am Eigenen, vielseitig denkbar, subjektiv gefärbt. Zwischen skulpturaler und malerischer Handhabung entstehen Reaktionen auf Blickwinkel, einfache Gesten, kleine Momente, die oft übersehen oder überdacht werden.
Elvedin Klačar
Answer Nature's Call
Rauminstallation (3 x 3 x 3 m), verschiedene Materialien, Technik, 2021
Manche Stimmen sind schon lange verklungen, aus den Ohren verschwunden. Die Natur wird immer leiser. Der Platz wurde eingenommen, viele Arten sind gegangen. In Answer Nature´s Call adressiert Elvedin Klačar das globale Artensterben, den Naturverfall als Resultat von Urbanisierung und der zunehmenden Forstwirtschaft. Auf einer Rodelwiese werden die Geister der Tiere auditiv, in Form von Stimmen, zurück in die Region versetzt, fast so, als hätten sie einen neuen Körper gefunden. Die Worte in ein Sprachrohr innerhalb einer begehbaren Skulptur gesprochen, einsehbar und luftdurchlässig. Die Stimmen der Besucher*innen werden gesammelt, aufgenommen und transformiert. Die Dringlichkeit, den stillen Ruf hörbar zu machen, steht im Fokus der Arbeit. Die physische Verdrängung schafft Aufmerksamkeit, lässt Töne erklingen, die vergangene Körper imaginieren und an sie erinnern.
Anna Daučíková
In the Interstices
Zweikanal-Videoprojektion im Loop, 5 min 55sec, 2021
Irgendwann einmal waren die Räume noch belebt, die Gänge gefüllt, von Etikette bestimmt. In Form eines Video-Essays erkundet Anna Daučíková das inzwischen einsam gewordene Südbahnhotel. Sie spinnt diese vergangenen Geschichten als gegenwärtige Fantasien einer »queeren Invasion« weiter. Diese beleben die verstummten Räume wieder. Die Körper sind fluide geworden, genauso wie die Zimmer, durch die sie sich bewegen. Die Konstanten von binären Geschlechtern beginnen zu kippen, schaffen eine durchlässige Struktur, die mit dem herrschenden Schweigen bricht, eine andere Sprache zulässt. Altbekannte Raumwahrnehmungen, Verhaltensweisen und Normen werden zurückgelassen. Die neuen Gäste thematisieren das progressive Denken vergangener Bilder und Tage durch den eigenen Körper: Motive des Sports, des polynesischen Männertanzes und Ikonen der Kunstgeschichte, heidnische Mythen oder Ashtanga Yoga werden vermengt und performt. Die alten Bilder formen sich neu und werden durchlässig.
Taus Makhacheva
Tightrope
58 min. 10 sec., Video, Farbe, Sound, 2015
Zwischen zwei Felsspitzen bewegt sich ein Seiltänzer langsam voran, nach vorne, über die Schlucht. Aus der Ferne sieht es aus, als würde er schweben. Anstelle eines Spazierstocks oder einem Geländer werden Kunstwerke benutzt, um die Balance zu halten. Im Hochland des Kaukasus werden die Arbeiten von einer Seite zur anderen transportiert. Sie sind gerahmt, hintereinander gestapelt, wie in einem Lagerhaus ohne Wände. Die Videoarbeit Tightrope von Taus Makhacheva thematisiert durch Bezugnahme auf die alte dagestanische Tradition des Seiltanzens, den kulturellen Umbruch der Republik Dagestan sowie den der Kunstinstitutionen und Sammlungen vor Ort. Auch am Semmering finden sich ähnliche Felsformationen. Vorsprünge aus Stein. Die Kulisse tritt auf diese Weise in einen inhaltlichen Dialog mit dem Seiltänzer, der sich in Gedanken zwischen den Steinvorsprüngen weiterbewegt, den Rahmen des Videos verlässt. Was könnte er hier balancieren?