Kris Lemsalu
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DOORA
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Bärbel Vischer
Mit einer überdimensionalen, eigens für den Ort geschaffenen Skulptur bespielt die in Tallin, Estland, und New York lebende Künstlerin Kris Lemsalu (geb. 1985) den Hafenspitz von Melk. In ihrer künstlerischen Praxis verwebt sie Skulpturen, Installationen und Environments zu vielschichtigen Erzählungen, die Geschichte und Gegenwart verbinden; Mythologien, Rituale und Erzählungen verdichtet sie zu neuen Konstellationen. Die Frage, wie sich unterschiedliche Kulturen und Gesellschaftsformen ineinander spiegeln, beleuchtet sie in ihrem skulpturalen Ensemble an der Donau, die zahlreiche kulturelle Räume vernetzt.
Kris Lemsalu interpretiert traditionelle handwerkliche Produktionsweisen und lotet die Grenzen der Bildhauerei aus sowie ihre Übergänge zu Performance und Musik. Keramik, Textil oder Metall bringt sie als zeitgenössische künstlerische Medien ein und nimmt die Sprache von Materialien auf, die seit prähistorischer Zeit für Ikonen, Idole, Konstruktionen, Verkleidungen und Hüllen verwendet werden.
Die Skulptur DOORA ist wie ein Leuchtturm zwischen Donau und Melker Altarm platziert und wirkt als Spiegel der Imagination. Im Rahmen des Projekts hat Kris Lemsalu in Melk und Umgebung recherchiert und ihren Entwurf in situ entwickelt. Die Skulptur wurde von einem großen Team, ihrem erweiterten Atelier, in Tallin und Wien produziert, wo die Künstlerin an der Akademie der bildenden Künste studiert hatte. Inspirationen ihrer facettenreichen Arbeit waren Buchmalereien mit Ornamenten der Bibliothek des Stiftes Melk, die Keramik einer ambivalenten plastischen Gestalt zwischen Mensch und Tier – eines Vogel-Mensch-Mischwesens –, aus der Jungsteinzeit, die heute im Melker Stadtmuseum zu sehen ist, oder die 1908 in der Umgebung entdeckte Venus von Willendorf, die vor etwa 30.000 Jahren als rituelle Venusfigur hergestellt wurde.
Die Figur der Venus verknüpft unterschiedliche Zeiten und eine kollektive feministische Haltung. Die avantgardistische Schriftstellerin Anaïs Nin (1903–1977) veröffentlichte kurz vor ihrem Tod eine in den 1940er-Jahren entstandene Sammlung von erotischen Texten unter dem Titel Delta der Venus – als Verweis auf die Form der Vulva. Kris Lemsalu nimmt die Metapher auf und animiert in ihrer Skulptur die Form der Venus – ein Motiv, das sie auch in anderen Werken unter verschiedenen Vorzeichen interpretiert. Die Venus als Symbol des Feminismus und des Matriarchats, einer mütterbezogenen Gesellschaftsform ohne institutionalisierte Hierarchien, setzt Lemsalu in einer individuellen, humorvollen und pointierten Geste vor die Barockkulisse des Benediktinerstiftes Melk, einer Institution des Patriachats. Die Künstlerin zeichnet das Bild einer Transformation der weiblichen Allegorie, die Muster zwischen den Geschlechtern verschiebt. In Selbstporträts inszeniert sie sich oft mit männlichen und weiblichen Merkmalen – eine fluide Wirklichkeit.
Der Barock als Begriff für eine Epoche leitet sich vom portugiesischen Wort „barocco“ ab, das ursprünglich in der Goldschmiedekunst verwendet wurde und „ungeschliffene Perle“ bedeutet. Lemsalu hat eine besondere Affinität zu Materialien. Die Skulptur DOORA entwickelt ihren Schwung aus einer Röhre aus Stahl, die mit einer Folie aus Kupfer verkleidet ist. Die malerische Oberfläche, versehen mit einer Lasur aus Eisenoxid wie für eine Keramikglasur, changiert je nach Lichtwirkung und Perspektive in unterschiedlichen Blautönen und scheint die Farbe des Flusses oder die Patina der mit Kupfer ummantelten Kuppel des Stifts aufzunehmen.
Alle Glieder der Skulptur mit ihrer organischen Form, ihren klaren Konturen und signethaften Applikationen sind visuell, imaginativ oder real in Bewegung. Die Form der Skulptur erschließt den zwei- und dreidimensionalen Raum und entsteht – vergleichbar mit einem Instrument – durch Schwung und Drehung des Korpus. Augen, die sich im Wind drehen, ergeben sich aus der Form von Spiralen – ähnlich wie die Kreise, die durch das Wasser ziehen, wenn ein Stein hineingeworfen wird.
Die Silhouette der Skulptur wandelt sich, wenn man sich ihr nähert – so die Künstlerin. Durch die Drehung der geschwungenen Form und beim Umrunden entsteht vor den Augen der Betrachter*innen ein permanenter Wechsel der Blickwinkel. DOORA suggeriert Bewegung, und gleichzeitig öffnet sich die Skulptur zu einem Bogen, der dazu einlädt, hindurchzugehen und sich der Fantasie zu überlassen. Aktiviert wurde DOORA im Rahmen der Eröffnung im April 2022 durch die Künstlerin Kris Lemsalu mit der estnischen Jazzsaxofonistin Maria Faust, die der Skulptur eine Stimme verlieh, die aus dem Inneren wie aus dem Bauch eines Schiffes ertönte.
Kris Lemsalu entwickelte eine Figur mit Flügeln. Interessiert an Verhältnissen in der Natur, machte der Bildhauer Henry Moore (1898–1986) in seinen Skulpturen das Fliegen zum Thema. Auf ähnliche Weise wählt Lemsalu Phänomene und Formen der Natur als Modell. Bei Hochwasser, das auch die Stadt erreichen kann, lassen die mit Fischschwänzen versehenen Reifen aus Beton die Skulptur wie mit Inlineskates über das Wasser gleiten, während die Augen als Fixpunkte Orientierung geben. Ein Paar Flügel greift die Narration der geflügelten Figur der antiken Nike auf. Die ornamentalen Flügel verleihen DOORA Balance und lassen sie ziehen.
Die Töne, das Motiv der Spirale und die performative Drehung der Skulptur nehmen die Bewegung und die Ambivalenz des Flusses auf. Die Donau mündet nach der Stadt Wylkowe in der Ukraine durch das Delta ins Schwarze Meer. Die Skulptur ist ein Zeichen.
Bärbel Vischer