Maruša Sagadin
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Das Blühen spüren
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Information
Wandtapeten (in Zusammenarbeit mit Julia Hohenwarter) und Gebetsmühlen für die Wohnräume des Pflege- und Betreuungszentrums Korneuburg
„Die Vergangenheit kämpft mit dem Ertrinken und schafft es manchmal, einen Arm aus dem Meer zu strecken, in dem sie seit Jahrzehnten untergeht. Sie greift nach dem Menschen, der sie erfahren hat. Weil sie am Leben bleiben will.“[1] In ihrer Erzählung über die prägende Erfahrung ihrer ersten Begegnung mit der Pop-Ikone Patti Smith findet die noch junge Autorin Helene Hegemann dieses eindringliche Bild, um die elementare Kraft der Vergangenheit und die lebensbestimmende und überlebenswichtige Dimension von Erinnerung zu beschreiben. Mit Bezug auf Maruša Sagadins Gestaltung der Wohnräume im Pflege- und Betreuungszentrum Korneuburg liest es sich wie ein Leitmotiv. Auf spielerische Weise verhandelt die Künstlerin in ihrer Installation sehr ähnliche Fragen: Was sagen unsere Erinnerungen über uns aus? Wie lässt sich Vergangenes vergegenwärtigen, um dem Vergessen Widerstand zu leisten? Was bietet Halt, wenn die zeitliche und räumliche Orientierung zunehmend verloren geht?
Sagadins Installation Das Blühen spüren besteht aus zwei sich ergänzenden Elementen: Tapeten mit Zeichnungen verschiedener Heilpflanzen, die durch ihre unterschiedliche Farbgebung in den vier Wohntrakten wie ein einfaches Leitsystem fungieren, und darauf montierte Wandobjekte aus Holz, die in ihrer Form an Gebetsmühlen erinnern und mit der Hand in Bewegung gesetzt werden können. Die Installation weckt potenziell Freude und ermöglicht den dort wohnenden Menschen und ihren Gästen neue Begegnungen mit Altvertrautem.
Die auf den Tapeten dargestellten Heilpflanzen wie Melisse, Rose, Ringelblume und Lavendel finden sich in vielen Gärten der Umgebung. Sagadin ordnet sie keinem Muster unter, sondern zeigt die Pflanzen stark vergrößert als ausgeprägte Individuen in ihrer Einzigartigkeit und Vitalität. Die auffällig belebte Strichführung der Zeichnungen beruht auf einer besonderen manuellen Drucktechnik der Künstlerin Julia Hohenwarter, die sie in ihrer eigenen Praxis entwickelt und hier ausgeführt hat. Die Umrisslinien der Pflanzen wurden zuerst in Papier gekratzt und dann zum Erscheinen gebracht, indem die Linien mit Pigment ausgewischt wurden. Schließlich wurden die einzelnen Papierblätter digital collagiert und als raumhohe Tapeten an den Wänden angebracht. Paradoxerweise sind es gerade das Unperfekte und die Spuren der Verletzung, die der Materialität der Linien eingeschrieben sind, welche die Lebendigkeit und damit auch die spezifische Schönheit der einzelnen Pflanzen ausmachen.
Auch auf den beweglichen Rundhölzern der Handmühlen sind alltägliche Dinge abgebildet: Gebrauchsgegenstände, Haustiere, Kleidung, Obst und Gemüse. Die Walzen sind leicht greifbar, und sobald sie gedreht werden, tauchen die Motive auf und verschwinden wieder – eine Metapher für das Leben, dass sich immer weiter und weiter dreht, aber auch für die Erinnerung als solche. Wesentlich für die Auswahl der Motive, die Sagadin zusammen mit der Heimleitung getroffen hat, war, dass sie zahlreiche Assoziationen zulassen und viele verschiedene Geschichten stimulieren sollten. Wenn das Erkennen und Wiedererkennen eines Nudelholzes etwa mit Gedanken an ein Lieblingsrezept oder an das Backen von Weihnachtskeksen damals wie heute oder ganz allgemein an die geteilte Zeit mit der Familie und befreundeten Menschen Freund*innen verknüpft wird, werden die Handmühlen zu Erinnerungsmaschinen. Sagadin hat sie als ein Angebot konzipiert, die Zeit von gestern, die Ereignisse und Erfahrungen ebenso wie das damit verbundene frühere Glück und Unglück, heraufzubeschwören und für sich oder in Gemeinschaft noch einmal zu erleben.
Die Installation will aktiv berührt und benutzt zu werden. Die partizipative Ausrichtung ihrer Arbeiten ist neben anderen Charakteristika wie der sonst eher prallen, comicartigen Formensprache, der feministischen Grundhaltung und dem Spiel mit Zuschreibungen, Brüchen und Witz eine der konstitutiven künstlerischen Strategien Sagadins. Viele ihrer Arbeiten wie die Werkgruppe der Bänke und Sockel mit überdimensionierten Körperfragmenten sind als Teil jener Infrastrukturen und Räume konzipiert, die sie verhandeln, und vervollständigen sich erst durch den Gebrauch und im Zusammenspiel der verschiedenen Körper. Dahinter steht das Anliegen der Künstlerin, ein performatives Erlebnis zu generieren und mit ihrem Werk in einen Dialog mit einer Gemeinschaft zu treten.
Im Kontext des Pflege- und Betreuungszentrums und der besonderen Bedürfnisse der dort lebenden Menschen Bewohner*innen verbindet Sagadin das Moment der Teilhabe dabei mit differenziert ausgearbeiteten Oberflächen. Die Motive der Handmühlen sind als Messing-Intarsien umgesetzt und somit nicht nur sichtbar, sondern in ihren Umrissen auch ertastbar. Die unterschiedliche Materialität des warmen Holzes und des kalten Metalls befördert jenes taktile Erleben, das in unserer logozentrierten und auf den Sehsinn fokussierenden Wahrnehmung von Welt häufig vernachlässigt wird. Qualitäten, die das Versinken in die Wortlosigkeit überdauern und das Leben dennoch spüren lassen. Auf eindringliche Weise etabliert Sagadin so ein komplexes Wechselspiel zwischen dem buchstäblichen Greifen nach Erinnerung und dem tieferen Begreifen von Erinnerung und ihrer Struktur.
Annette Südbeck
[1] Helene Hegemann, Patti Smith, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021, S. 83.
Maruša Sagadin, Das Blühen spüren (Wandtapeten, Gebetsmühlen)
Entwurf, künstlerisches Konzept, Zeichnung (Wandtapeten, Gebetsmühlen): Maruša Sagadin
Wandtapeten in Zusammenarbeit mit Julia Hohenwarter
Technische Konzeption, Planung, Leitung: Monika Trimmel
Scans und Aufbereitung der Druckdaten, Wandtapeten: Christoph Straganz
Druck und Montage, Wandtapeten: Matic Werbung
Herstellung und Montage, Gebetsmühlen: STAHLUNDFORM
Herstellung der Motive, Gebetsmühlen: rausgebrannt, Bernhard Rameder