Nilbar Güreş
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ATEM
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Dinghaftigkeit und Eigensinn
Das surreale Spiel mit der Dinghaftigkeit des Körpers und mit der Körperlichkeit der Dinge zeichnet viele Arbeiten von Nilbar Güreş aus. Sie inszeniert dieses Spiel in Fotografien, Objekten, Collagen, Zeichnungen, Videos, Gemälden – und 2021 auch in ihrer ersten Installation im öffentlichen Raum, einer kinetischen Skulptur am spätmittelalterlichen Wehrturm der Marktgemeinde Perchtoldsdorf nahe Wien. Dabei geht sie stets der Frage nach, wie wir die Welt bewohnen, also welchen Verhaltensnormen, Rollenzuschreibungen und Handlungsmustern wir folgen, welche gesellschaftlichen Prägungen wir im Laufe unseres Lebens erhalten, wie wir uns zu dem, was uns unmittelbar umgibt, verhalten und in welche Relation wir uns zu historischen Spuren, aber auch globalen Entwicklungen setzen.
Einem Weltbild, das durch Dualitäten strukturiert ist, wie Natur und Kultur, Geist und Körper, Subjekt und Objekt, Mensch und Nichtmensch, Selbst und Anderes, Mann und Frau, Eigenes und Fremdes, halten Nilbar Güreş’ Arbeiten poetische, subtil ironische, aber auch humorvolle Imaginationen entgegen, die das, was wir als gegeben wahrnehmen, als gemacht entlarven und leichtfüßig durchkreuzen. Sie tun dies im konzeptuellen Zusammenwirken der eingesetzten Materialien, Motive, Gesten und Geschichten. Dabei ist Textiles im weitesten Sinne Güreş’ bevorzugter Werkstoff, ob als feingewebte Seide, rohe Schafwolle, Gestricktes, Gehäkeltes oder Gesticktes, in Form von Kleidung oder als Kunsthandwerk, in kleinem oder wie hier in monumentalem Format. Textilien sind für die Künstlerin nicht nur eine unerschöpfliche Inspirationsquelle, sondern auch Medien, die Zeit und Raum transzendieren und Verbindungen zu vergangenen Zeiten und Kulturen ebenso herstellen können, wie sie gegenwärtigen Alltag in einem historischen Kontext zu evozieren vermögen.
Der Ort ihrer Intervention ist ein vielfach aufgeladener: Nicht nur handelt es sich bei dem imposanten Gebäude um den mit einer Höhe von 60 Metern größten erhaltenen Wehrturm Österreichs, mit seinen verschiedenen Nutzungen über die vergangenen 500 Jahre als Wehrturm (etwa in der ersten Belagerung durch die Osmanen), Wachturm, Kirch- und Glockenturm sowie Stadt- und Uhrturm kommt ihm eine außerordentliche identifikatorische und identitätsstiftende Funktion im lokalen Gefüge zu. Unter dem Titel Atem lässt Nilbar Güreş aus drei Fenstern des weithin sichtbaren Wahrzeichens Blasen aus Ballonseide mit einem Durchmesser von vier Metern austreten, die sich in regelmäßigen Abständen mit Luft füllen und wieder entleeren – ganz so, als würde das Bauwerk atmen.
Ein zentraler Ausgangspunkt der Überlegungen der Künstlerin, in denen sich Geschichte und Funktion des Turmes widerspiegeln und gleichzeitig in der Gegenwart verankern, war, nicht Abwehr, sondern Schutz in den Fokus zu rücken, verbunden mit der Frage, wie wir uns schützen können, ohne andere zu gefährden. Wie haben sich Gefahren und Strategien, ihnen zu begegnen, über die Zeit verändert? In unserem motorisierten Alltag etwa dient der Airbag als mögliches Sinnbild für Schutz vor schweren Verletzungen durch einen Aufprall. Güreş bedient sich der Form des Luftsacks und monumentalisiert sie zu „Atem-Blasen“. Wie eine Konzeptskizze der Künstlerin zeigt, begreift sie den Baukörper zwischen den Blasen als „Lunge“ des Gebäudes.
Kunst im öffentlichen Raum hat die besondere Eigenschaft, uns in unserem Alltag zu begegnen, ohne dass wir es beabsichtigt hätten. Hier entfalten zeitgenössische künstlerische Praktiken ihr Potenzial, unseren Blick, unsere Perspektive auf die Dinge, die uns umgeben, zu irritieren, temporär oder auch nachhaltig zu verändern, jedenfalls, sie anders wahrzunehmen und neu in unser Leben zu integrieren. Die Intervention von Nilbar Güreş am Wehrturm tut genau dies: Sie macht das Wahrzeichen als Protagonisten der visuellen Erscheinung Perchtoldsdorfs sichtbar und verleiht diesem „Ding“ eine Körperlichkeit, von der eingangs die Rede war: eine Körperlichkeit, die auf ein Eigenleben hindeutet. Beseelte Dinge beschäftigen die Künstlerin schon lange, nicht nur, aber auch vor dem Hintergrund der kurdisch-alevitischen Kultur, die ihr familiär vertraut ist. So geht etwa der Animismus im Sinne einer „Allbeseeltheit“ davon aus, dass Dinge über eine unsichtbare Kraft verfügen und intuitiv Brücken bilden können zu unseren Gefühlen und Wünschen, zur Vergangenheit, zu Ereignissen, also etwas Lebendiges oder Körperliches besitzen. Die Verbindung zwischen Atem und Leben verdeutlich sich im Ursprung des Begriffs, leitet er sich doch von lateinisch animus/anima – Atem ab. Solcherart erscheint der wohlbekannte steinerne Zeuge dieses Ortes erweckt, atmend, buchstäblich animiert, um das topografische Unbewusste bewusst werden zu lassen. Als kommunizierendes Gefäß zwischen Geschichte und Gegenwart erzählt die Intervention von Nilbar Güreş am Perchtoldsdorfer Wehrturm von Beständigkeit und Transformation, Verwundbarkeit und Resilienz.
Luisa Ziaja