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Eine Frage der Perspektive

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Markus Hiesleitner, Steppenroller, 2024
© Joanna Pianka
Markus Hiesleitner, Steppenroller, 2024
© Joanna Pianka
Markus Hiesleitner, Steppenroller, 2024
© Joanna Pianka
Natalie Deewan, Gleichzeituhr, 2024
© Joanna Pianka
Natalie Deewan, Gleichzeituhr, 2024
© Joanna Pianka
zweintopf, Das kleine Zaunstück, 2024
© Joanna Pianka
zweintopf, Das kleine Zaunstück, 2024
© Joanna Pianka
Nataša Sienčnik, Fabrik für internationale Utopien, 2024
© Nataša Sienčnik
Nataša Sienčnik, Fabrik für internationale Utopien, 2024
© Nataša Sienčnik
Nataša Sienčnik, Fabrik für internationale Utopien, 2024
© Nataša Sienčnik
Loosdorf, 22.6.2024 – 27.10.2024

Information

Eine Frage der Perspektive – Kunstparcours zwischen Loosdorf und der Schallaburg

kuratiert vom Verein Lendhauer, mit ortsspezifischen Arbeiten von: Natalie Deewan, Markus Hiesleitner, Hanno Kautz, Nataša Sienčnik und zweintopf

STANDORTE_Kunstparcours 

„Die Vergangenheit ist kein sicherer Ort.“ (Valentin Groebner)
Die Renaissance ist ein großer, schillernder Begriff. Er bezeichnet eine prägende Kunstepoche, steht zugleich synonym für eine Zeit des Aufbruchs und des gesellschaftlichen Wandels und ist bis heute für viele Europäerinnen und Europäer ein wichtiger Bezugspunkt für ihr Selbstverständnis. Diese Überlegungen bilden den Ausgangspunkt für die Künstlerinnen und Künstler, die in ihren Arbeiten die kulturellen, sozialen und ökologischen Folgen dieser Entwicklungen und die damit verbundenen Vorstellungen und Ambivalenzen beleuchten. Die zeitgenössischen künstlerischen Positionen in Loosdorf, Anzendorf und am Fuß der Schallaburg stellen die Zentralperspektive, ein Kernelement der Renaissance-Kunst, in den Fokus der Überlegungen.

Im Rahmen der Jubiläumsausstellung „Renaissance einst, hier und jetzt“ im Ausstellungszentrum Schallaburg versammelt der Verein Lendhauer Positionen zeitgenössischer Kunst im öffentlichen Raum. Die Renaissance galt lange Zeit als Maßstab für künstlerische und kulturelle Innovation. Die eingeladenen Künstlerinnen und Künstler fordern die große Erzählung über die Renaissance heraus und legen einen neuen Blick auf ihre ‚Errungenschaften‘. Ergänzt werden die Installationen durch Gesprächsrunden, Lesungen, Performances und Workshops.

Bis heute dominiert das Bild der Renaissance als „goldene Ära“ und Epoche des Aufbruchs. Durch die Auseinandersetzung mit der Antike, also mit einem weiten Blick zurück, eröffneten Gelehrte und Künstler der Zeit des 15. und 16. Jahrhunderts neue Wahrnehmungen und Sichtweisen. Während der Einfluss der Kirche auf die Kunst abnahm, wuchs gleichzeitig der Einfluss der Wissenschaft. Die Zentralperspektive basiert auf wissenschaftlichen Grundlagen und der Idee, dass die Welt messbar und kategorisierbar sei. Die Zentralperspektive veränderte den Blick auf die dargestellte Welt und damit verbundene Normen ebenso nachhaltig wie der beginnende Kapitalismus das Leben der Menschen. Neue Welten brachten Wissen und Macht über Pflanzen, Tiere und Kulturen. Der Buchdruck ermöglichte die schnelle Verbreitung von Wissen. Die Renaissance prägte auch menschliches Selbstbewusstsein und den Fokus auf das Individuum.

Blicken wir aus unserer Perspektive 500 Jahre zurück und nehmen die Renaissance als potentielles Vorbild, ist bei Weitem nicht alles Gold, was glänzt. Mit der Zentralperspektive stand im weiteren Verlauf vor allem Europa im Mittelpunkt der Welt. Dieser Blickwinkel prägt unsere Sicht auf die Welt noch immer und hat dazu geführt, dass andere Regionen bis heute benachteiligt sind. Auch die sozialen und ökologischen Folgen des Kapitalismus sind längst weltweit spürbar. Die Künstlerinnen und Künstler der Ausstellung rücken die Kehrseiten dieser Entwicklungen in den Vordergrund. Sie setzen sich in ihren Arbeiten damit auseinander, welche kulturellen, sozialen und ökologischen Folgen Rationalisierung, Weltunterwerfung und Subjektzentrierung haben. Die künstlerischen Positionen zeigen Parallelen zu Phänomenen und Handlungen unserer Gegenwart auf. Die Installationen regen zum Nachdenken an und ermöglichen nicht nur neue Perspektiven auf die Renaissance, sondern auch auf unsere Welt, unseren Umgang untereinander und auf zukünftige Herausforderungen.

 Verein Lendhauer

Ein Projekt der Abteilung Kunst und Kultur/Kunst im öffentlichen Raum Niederösterreich in Zusam-menarbeit mit der Schallaburg Kulturbetriebsges.m.b.H.

Herzlichen Dank an die Gemeinde Loosdorf, die Gemeinde Schollach, den Kulturverein Loosdorf, den Dorferneuerungsverein Anzendorf, den Dorferneuerungsverein Roggendorf, den Gasthof Jäger, das Dorfwohnzimmer Roggendorf sowie alle Künstlerinnen und Künstler und alle Beteiligten.

Der Verein Lendhauer kuratiert zeitgenössische Kunst-im-öffentlichen-Raum-Installationen, die dazu auffordern, regionale wie globale Themen zu reflektieren. Team: Morena Bignotti, Andrea Hlatky, Sandra Hölbling-Inzko, Hanno Kautz, Janine Schemmer, Matthias Wieser. lendhafen.at

Mitwirkende

Kuration

Beiträge

Begleitprogramm

Samstag, 06.07., 10.00 Uhr: Führung durch den Kunstvermittler Marcel Chahrour (Schallaburg), Start: Bahnhof Loosdorf

Freitag, 12.07., 19.30 Uhr: »Übers Land reden«. Gespräch mit Markus Hiesleitner und Gästen über die Arbeit, die Natur und das Leben am Land, im Dorfstadl Schollach. Mit Nachbarinnen und Nachbarn, Landwirtinnen und -wirten und Kunst- und Kulturschaffenden reden wir über gemeinschaftliche Perspektiven im ländlichen Raum. Moderation: Wolfgang Schlag

Mittwoch, 31.07., 19.30 Uhr: Gleichzeitlesung I mit Natalie Deewan, Das Phänomen Gleichzeitigkeit in der Literatur, Gasthof Jäger, Anzendorf

Freitag, 09.08., 14.00 Uhr: Performance von Nataša Sienčnik, Kunst Werk Tage Schallaburg. Druck- und Näh-Workshop mit handgefertigten Textilprodukten (eintrittspflichtig)

Samstag, 24.08., 14.00 Uhr: Führung durch die Kuratorinnen und Kuratoren, Start: Bahnhof Loosdorf

Samstag, 31.08., 14.00 Uhr: Performance Nataša Sienčnik, Marktfest Loosdorf. Druck- und Näh-Workshop mit handgefertigten Textilprodukten

Donnerstag, 05.09., 18.30 Uhr: Gleichzeitlesung II mit Natalie Deewan, Das Phänomen Gleichzeitigkeit in der Literatur, Gasthof Jäger, Anzendorf

Samstag, 07.09., 14.00 Uhr: Führung durch den Kunstvermittler Marcel Chahrour (Schallaburg), Start: Bahnhof Loosdorf

Anmeldung: koernoe@noel.gv.at

Natalie Deewan

Gleichzeituhr

Zweiseitige, hinterleuchtete Analoguhr
vis-à-vis Gasthof Jäger, Anzendorf

An einer ausgesprochen belebten Stelle in der Umgebung der Schallaburg, der Kreuzung in Anzendorf zwischen Feuerwehr, Bauhof, dem Anzendorfer Hofladen, einer Ankündigungstafel sowie dem Gasthof Jäger, hat Natalie Deewan eine Gleichzeituhr errichtet. Auf der einen Seite sind die uns hier in Europa vertrauten west-arabischen Ziffern, auf der anderen Seite ost-arabische Ziffern zu erkennen. Beide Seiten zeigen die lokale Mitteleuropäische Normalzeit und die vier Zeitzonen entfernte Westasiatische Normalzeit an, wie sie etwa in Pakistan, den zentralasiatischen Republiken Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan, einem Teil von Russland bis zum Kaspischen Meer sowie auf den Malediven gilt.
Die Gleichzeitigkeit wird über einen zweiarmigen Stundenzeiger hergestellt, dessen Arme sich im Winkel von 120° gleichbleibend vorwärtsbewegen. Deewan schafft so mitten in der niederösterreichischen Landschaft die Gleichzeitigkeit zwischen dem Hier und einem pakistanischen, usbekischen oder turkmenischen Jetzt.
Die visuelle Koppelung der beiden Zeitzonen öffnet die mitteleuropäische Zentralperspektive und erweitert sie um eine andere, globale Gegenwart, mit der »wir hier« mehr denn je verbunden sind.

Natalie Deewan sucht und findet sprachliche Lösungen und praktiziert reine, reale und angewandte Literatur im städtischen und ländlichen, öffentlichen und veröffentlichten Raum. heterotypia.net

Markus Hiesleitner

Steppenroller

3 (mobile) Skulpturen
Bahnhof Loosdorf / Brücke zw. Roggendorf und Anzendorf / am Fuß der Schallaburg

Steppenroller sind aus Western-Filmen bekannt, in denen sie verlassene Orte und verödete, wüstenähnliche Landschaften symbolisieren. Durch steigende Temperaturen, Trockenheit und Dürre verbreiteten sich diese Pflanzenarten immer weiter in den Norden und werden künftig vermehrt auch bei uns anzutreffen sein. Hiesleitners Steppenroller sind Collagen aus Metallstangen ausrangierter Trampoline, Silofolien und Zaungeflechten: Materialien, die das Erscheinungsbild der unmittelbaren Umgebung bestimmen. Der Künstler übersetzt die natürlichen Steppenroller in mobile »mechanische Renaissance-Pflanzen«, die auf unser individuelles Konsumverhalten und dessen Konsequenzen verweisen. Unser heutiger Wohlstand gründet auf der intensiven Nutzung der Natur, ihrer Ausbeutung, welche weltweit Auswirkungen auf den Menschen und die Umwelt hat. Die Steppenroller erinnern daran, dass globale Verflechtungen, Kapitalismus und Kolonialisierung in der Renaissance ihren Anfang nahmen, und regen an, über unseren Umgang mit der Natur und die Spuren, die wir in ihr hinterlassen, nachzudenken.

Markus Hiesleitner beschäftigt sich in seinen ökopolitischen Skulpturen und Installationen mit der Beziehung zwischen Mensch und Natur. Er geht der Wechselwirkung zwischen ökologischen Kreisläufen und politischen, sozialen und wirtschaftlichen Strukturen nach. hiesleitner.com

Hanno Kautz

Are you still in the center?

Interaktive Installation

Löschteich am Fuß der Schallaburg

Ein Spiegel und ein Schriftzug, dessen Bedeutung wechselt, laden die Besucherinnen und Besucher der Schallaburg ein, ihr Verständnis von sich und ihrer Umwelt zu hinterfragen und zu erweitern. In der Zeit der Renaissance kam die scheinbar gottgewollte Ordnung der Welt ins Wanken, und der einzelne Mensch als freies Wesen rückte immer mehr in den Mittelpunkt der künstlerischen Darstellung und des allgemeinen Denkens. Heute bieten soziale Netzwerke einfache Möglichkeiten, sich als Zentrum einer digitalen Welt zu inszenieren und sich in der je eigenen Besonderheit darzustellen. Die Installation im Löschteich der Schallaburg stellt die Frage, was in Zukunft im Fokus stehen soll: individuelle Entfaltung und Erreichen persönlicher Ziele, ein möglichst erfolgreiches Ich oder eine starke Wir-Gesellschaft, die durch solidarisches Handeln nach Lösungen für die vielfältigen, globalen Herausforderungen strebt?

ME oder WE? – das ist hier die Frage. Unabhängig davon, wie die Antwort darauf ausfällt, die Spiegelung der Wasseroberfläche zeigt, dass Individuum und Gesellschaft untrennbar miteinander in Wechselwirkung stehen.

Hanno Kautz nutzt in seinen Arbeiten im öffentlichen und halböffentlichen Raum Licht als gestalterisches Element, mit dem er Räume auslotet und Platz für Annäherung, Begegnung und Dialog schafft. hannokautz.com

Nataša Sienčnik

Fabrik für internationale Utopien

Interaktive Installation

Innenhof der Schallaburg und weitere Orte (siehe Begleitprogramm)

In der Renaissance entstand eine einflussreiche wirtschaftliche und soziale Ordnung: der Kapitalismus. Heute beeinflusst der globale Handel Mensch und Umwelt. Sienčniks Projekt konzentriert sich prototypisch auf die globalen Aspekte der Textilproduktion sowie die damit verbundenen Arbeits- und Lebensbedingungen. Mit einer als Fahrradanhänger konzipierten mobilen Werkstätte für Utopie-Produktionen begibt sich die Künstlerin auf Wanderschaft in und rund um die Schallaburg. Das sich auf den Archetyp des Renaissance-Schrankes beziehende Möbel beherbergt handgefertigte Fahnen sowie Werkzeuge zum Färben, Nähen, Bügeln und Beschreiben von Stoffen. Die in Gelbtönen – der niederösterreichische Donauraum war bekannt für den Anbau hochqualitativen Safrans – gefärbten Textilien stehen in der Tradition von zivilgesellschaftlichen Bannern und bieten Platz für utopische Visionen in Form von Texten und Zeichnungen.
Es entstehen kurzlebige Objekte, die eine feministische Perspektive auf Themen wie (Care-)Arbeit, Verteilung von Zeit und gesellschaftliche Strukturen zeigen. Die Fabrik für internationale Utopien taucht an verschiedenen Orten auf und lädt dazu ein, eigene Utopien zu entwerfen.

Nataša Sienčnik bearbeitet mittels unterschiedlicher Medien Phäno-mene des Hier-, Dort- und Anderswo-Seins und stellt dabei soziale, politische und kulturelle Fragen der Gegenwart. natasasiencnik.com

zweintopf

Das kleine Zaunstück

Installation aus verschiedenen Zaunmaterialien

Bahnunterführung zw. Loosdorf und Roggendorf (Kirchenweg/Südstr.)

Das Haus, das Carport, der Rasen – und rundherum der Zaun. Betrachten wir die österreichische Kulturlandschaft, finden wir uns eingespannt in ein kapitalistisch gerastertes Lebensmuster. Vor gut 500 Jahren wurde der Mensch als Individuum in den Mittelpunkt gestellt, und ohne Zweifel hat er sich in der Rolle als Verwalter seines eigenen (kleinen) Glücks profiliert. Persönlicher Besitz, Kolonisierung und Weltunterwerfung befeuerten den Ehrgeiz des und der Einzelnen. Und was einmal erobert ist, will auch entsprechend abgegrenzt werden.

Die Zentralperspektive kann als eine bildliche Übersetzung dieses Prozesses verstanden werden. Anknüpfungspunkt für Das kleine Zaunstück bietet die perspektivische Technik des Fadengitters, die Leon Battista Alberti in seinem Traktat De Pictura (1435) als Behelf für die räumliche Darstellung auf der Fläche erstmals erläutert. Das Künstlerduo nutzt diese Idee aus einer gänzlich anderen Perspektive und führt den Blick durch zehn unterschiedliche Zaunstücke. Die verschiedenen Materialien und Rasterungen überlagern sich zu einem dichten Geflecht, das langsam, aber sicher die Sicht auf das Wesentliche verunmöglicht.

Eva Pichler und Gerhard Pichler arbeiten seit 2006 als zweintopf an der Poetik trivialer Dinge. Codes und Symbole des Alltäglichen und Öffentlichen durchleuchtend, sind sie auf der Suche nach dem charakteristischen Element des Absurden, welches jedem menschlichen Streben innewohnt. zweintopf.net

Bilder (1)

Hanno Kautz, ohne Titel, 2024
© Hanno Kautz

Drucksorten (2)