Anna Artaker
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Gestaltung alter jüdischer Friedhof
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Der Friedhof als Ort lesbarer Erinnerung
Zum Werk von Anna Artaker
In weißer Schrift ist auf transparentem Glas zu lesen: „Tochter des Gerbermeisters Max Frischmann, gestorben am 8.11.1875 im Alter von einer viertel Stunde, Wilhelmsburg. Hier begraben am 9.11.1875.“ Hinter der Schrift liegt eine grüne Wiese, der Wind streift durch die alten Bäume, hier und dort liegen ein paar Kastanien verstreut. Das Grundstück inmitten eines Wohngebietes ist unbebaut und sieht aus wie ein Garten. Gepflegte Natur hinterfängt den Text. Eine Fläche der Stille, die mit dem Gelesenen verbunden wird: „Johanna Steiner, Witwe des Pottaschefabrikanten Benjamin Steiner, gestorben am 29.11.1887 im Alter von 95 Jahren, St. Pölten. Hier begraben am 1.12.1887.“ Den Gedanken nachsinnend, kommt durch die beschriebenen Glasplatten der Ort wieder in den Blick: „Hier begraben“. Hier, am alten jüdischen Friedhof in St. Pölten, den die Künstlerin Anna Artaker mit gläsernen Schrifttafeln gerahmt hat.
In ihren künstlerisch-forschenden Werken untersucht Anna Artaker, wie aus den komplexen Verwebungen von sinnlicher und intelligibler Welt Wirklichkeit entsteht: „Wie beeinflussen unsere Worte und Gedanken das, was wir als Realität wahrnehmen? Und umgekehrt: Wie formen Bilder und Gegenstände, die wir mit den Sinnen erfahren, die Begriffe, mit denen wir unsere Wirklichkeit beschreiben?“, fragt die Künstlerin. Ein zentraler Ansatzpunkt dafür ist die Praxis der Geschichtsschreibung, die im Rückblick ein möglichst wahrheitsgetreues Bild der Wirklichkeit herzustellen versucht. Diesen Knotenpunkt zwischen Vergangenheit und Gegenwart stellt Artaker in ihren Werken in den Fokus. Vielfach beginnt ihre Arbeit in der Bibliothek, oft verwendet sie historische Bestände, Archivalien oder Publikationen als künstlerisches Material. Auch für das Werk am alten jüdischen Friedhof in St. Pölten hat die Künstlerin zunächst die Quellen konsultiert: Wie in den erhaltenen Sterbematrikeln des alten jüdischen Friedhofs nachzulesen ist, wurden zwischen 1859 und 1904 insgesamt 543 Mitglieder der Kultusgemeinde auf diesem Friedhof bestattet. Danach wurden die Toten der jüdischen Gemeinde auf dem neuen jüdischen Friedhof neben dem christlichen beigesetzt. 1938 wurde der alte jüdische Friedhof geschändet und der Grabsteine beraubt, seit 1968 weist lediglich ein kleiner, allgemeiner Gedenkstein in der Mitte des Grundstücks auf die Funktion des Ortes hin. Für Vorbeigehende war der Friedhof kaum als solcher erkennbar, für historisch Interessierte war keine Auskunft mehr ablesbar, für Hinterbliebene wurde die Stätte personalisierten Totengedenkens entfernt.
Diese lückenhafte Situation hat die Künstlerin als Ausgangspunkt genommen, um das nicht mehr Sichtbare wieder in den Blick zu rücken und die Geschichte des Ortes in neuer Form zu vergegenwärtigen. Eine Informationstafel an der Straßenkreuzung gibt in drei Abschnitten Auskunft zur Geschichte des Areals: Auf einer Landkarte sind die Herkunftsorte der Begrabenen markiert; eine weitere Karte zeigt die Lage der Gräber am Friedhof, die in einem grabungslosen Verfahren ermittelt wurde; ein zeithistorischer Text erläutert die Geschichte des Friedhofs. Ein Davidstern kennzeichnet das Grundstück als Begräbnisstätte der jüdischen Glaubensgemeinschaft. Den Informationsbereich flankieren beschriebene Glasplatten, die das Grundstück an den zwei an den öffentlichen Raum angrenzenden Seiten umfassen. Auf diesen transparenten Tafeln sind in weißer Schrift die Namen der Bestatteten aneinandergereiht: Jeder Person ist ein kurzer Textabsatz gewidmet, der den Inschriften auf jüdischen Grabsteinen ähnlich ist. Da die individuellen Grabsteine geraubt wurden, hat sich die Künstlerin für eine Vereinheitlichung der Formulierung entschieden. Der kurze persönliche Text beginnt mit Namen, Berufsbezeichnung oder Familienzugehörigkeit und Wohnort der Bestatteten. Anstelle des Geburtsdatums wird, wie auch auf vielen jüdischen Grabsteinen, das Lebensalter zum Zeitpunkt des Todes angegeben und schließlich der Tag der Bestattung genannt. Die Formulierung „Hier begraben…“, die ebenfalls auf vielen jüdischen Grabsteinen als Indikation der letzten Herberge zu finden ist, schließt den Text ab.
Diesem Schema folgend, ziehen sich die personalisierten Kurztexte die gesamte Friedhofsgrenze entlang, formen ein rhythmisches Textbild und umschließen die Begrabenen. Jede Tafel beginnt dabei mit einer hebräischen Einleitungsformel und schließt mit einem hebräischen Segenswunsch. So werden die Schrifttafeln teils ornament- und zeichenhaft für diejenigen, die die hebräische Schrift nicht lesen können, und geben gleichzeitig den Hebräisch Lesenden die Möglichkeit ritualisierten Gedenkens. Tafel um Tafel, Seite um Seite, Zeile um Zeile: Weiß auf Glas entsteht ein aufgeblättertes Friedhofsbuch, jede Tafel im Hochformat könnte als eine durchsichtige Buchseite gelesen werden. Die Schriftfarbe Weiß hat die Künstlerin in Anlehnung an die in der jüdischen Glaubensgemeinschaft traditionell weiße Totenkleidung gewählt. Zudem ist der weiße Text vor der Grünfläche gut sichtbar und schreibt sich beständig in den Ort ein. „Die Sicht auf den Friedhof wird so mit den Namen der Personen verknüpft, denen das eingefriedete Grundstück nach der jüdischen Religionslehre gehört – nämlich denjenigen, die hier ihre letzte Ruhe gefunden haben“, schreibt die Künstlerin. Die Durchsicht durch die Glasplatten auf den dahinterliegenden Friedhof definiert diesen zugleich als einen lesbaren Ort, wodurch das Werk von Anna Artaker auch die große Relevanz der Schrift für das Judentum als eine Religion heiliger Texte anschaulich werden lässt.
In der Installation WIENER AUTOGRAMME 1305–1380 (2020/21), die in der permanenten Ausstellung des Jüdischen Museums am Judenplatz in Wien zu sehen ist, hat sich Anna Artaker ebenfalls mit der Schriftaffinität der jüdischen Gemeinde auseinandergesetzt. Das Vorlesen aus der Tora in der Synagoge als wichtiger Bestandteil der Religionsausübung hat dazu geführt, dass die jüdische Gemeinschaft schon früh zu einem hohen Grad alphabetisiert war. Bereits im Mittelalter konnten viele jüdische Menschen lesen und schreiben. Anders als in der christlichen Mehrheitsgesellschaft, die Urkunden mit Siegeln beglaubigte, war es deshalb für Jüdinnen und Juden schon im Mittelalter üblich, Verträge mit der eigenhändigen Unterschrift zu bestätigen. Daher sind 18 Namen von Mitgliedern der jüdischen Gemeinde des mittelalterlichen Wien in der jeweils eigenen Handschrift der Unterzeichnenden überliefert. Diese Besonderheit hat die Künstlerin als Ausgangspunkt genommen: In weißem Licht zeichnen die WIENER AUTOGRAMME 1305–1380 zunächst den Namen in der jeweils originalen Handschrift nach, dieser wird daraufhin um eine typografische Umschrift in hebräischer Sprache ergänzt und schließlich um eine typografische deutsche Übersetzung erweitert. Gemäß diesem Schema erschreibt sich die Projektion ihren Lauf und repräsentiert die jüdische Bevölkerung des mittelalterlichen Wien nicht nur schriftbildlich, sondern macht sie durch die Transkription und Übersetzung in den zwei Sprachen Hebräisch und Deutsch lesbar und damit für die Besucherinnen und Besucher des Museums heute zugänglich. „Die Projektion der Unter- und Umschriften versinnbildlicht zugleich die Flüchtigkeit unseres Zugriffs auf diese Vergangenheit, die für uns nur ansatzweise und momenthaft lebendig werden kann“, erläutert die Künstlerin. Während die Namen in der Projektion im Jüdischen Museum wechseln, sind die Namen am alten Friedhof in St. Pölten permanent eingeschrieben. Die Flüchtigkeit der projizierten Unterschrift steht der Permanenz des Totengedenkens gegenüber. Zugleich werden in beiden Werken Namen, die nicht (mehr) lesbar waren, wieder leserlich und gegenwärtig.
Namen sind auch für die Installation OUTSIDE | INSIDE formgebend, die Anna Artaker 2020/21 für das Europäische Forum Alpbach realisiert hat. Auf den Glasfassaden des Congresscentrums in Alpbach hat die Künstlerin in weißer Schrift die Namen der Vortragenden aus der 75-jährigen Geschichte des Europäischen Forums Alpbach aufgelistet. Männer- und Frauennamen werden dabei typografisch unterschiedlich behandelt: Die Namen der Frauen sind, wie die Jahreszahlen, fett gedruckt und von außen lesbar; die Namen der Männer hingegen sind im Gebäudeinneren zu lesen. „Diese Anordnung machte anschaulich, dass Frauen bis in die 2000er-Jahre nur ausnahmsweise als Vortragende nach Alpbach eingeladen wurden: unter den fast 16.500 Namen bezeichneten etwas mehr als 3.300 Frauen […] obwohl Frauen nicht nur für den wichtigen Netzwerkcharakter des Europäischen Forums Alpbach eine zentrale Rolle spielten“, stellt die Künstlerin fest. Durch die geschlechterspezifische Orientierung der Namen auf den Glaswänden entsteht zugleich ein teils spiegelverkehrtes und daher rechts- und linksbündiges Schriftbild. Auch im Jüdischen Museum in Wien und am alten jüdischen Friedhof in St. Pölten kreuzen sich die Leserichtungen – allerdings sprachbedingt, da die hebräische Schrift von rechts nach links läuft. Durch solche Verkehrungen der Schrift hält der lesende Blick inne, Zeichen werden sichtbar, eine Reflexion des eigenen Blickwinkels wird angestoßen. Schließlich ist bei OUTSIDE | INSIDE die Position der Lesenden entscheidend dafür, ob die Namen gelesen oder gesehen werden. Ähnlich vergegenwärtigt wird der persönliche Blickwinkel am alten jüdischen Friedhof in St. Pölten: Straßenseitig können die Namen auf und ab gelesen werden, während sie im Friedhofsinneren zu spiegelverkehrten Schriftbildern gerinnen. Durch die transparenten Glastafeln bleibt das personalisierte Totengedenken dabei verbunden mit dem öffentlichen Raum, wobei die Schrift sowohl als bildliches wie auch als informatives Medium fungiert.
Die weiß beschriebenen Glastafeln von Anna Artaker, die heute den alten jüdischen Friedhof umlaufen, akzentuieren den Blick: derjenigen, die vorbeigehen; derjenigen, die innehalten; derjenigen, die erinnern. Der alte jüdische Friedhof in St. Pölten wird auf diese Weise zu einem sichtbaren Ort, auf den sich der Blick durch das lesende Sehen öffnet: Das Dahinterliegende verortet die Schrift, wird zur historischen Fläche, bildet einen Ort des Gedenkens. In gewendeter Perspektive wird das Umgebende zum zeichenhaft beschriebenen Rahmen, der das Erinnern sorgsam beherbergt. Zwischen Sichtbarkeit und Lesbarkeit situiert Anna Artakers Installation aus gläsernen Schrifttafeln den alten jüdischen Friedhof als einen Ort stiller Erinnerung, dessen Geschichte eng mit der Schrift und dadurch mit einem historischen Verständnis unserer Gegenwart verknüpft ist.
Hannah Bruckmüller